Kritische Kette / Critical Chain CCPM
Flexibel sein UND zuverlässig liefern - ein Widerspruch?
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- Kategorie: Critical Chain - Kritische Kette
- Zuletzt aktualisiert: Freitag, 21. Januar 2011 15:03
- Geschrieben von Michael Homberg
Flexibel sein UND zuverlässig liefern - ein Widerspruch?
Angenommen, der Wettbewerbsvorteil eines Unternehmens ist „totale“ Flexibilität: sofortige Reaktion auf neue Kundenwünsche (sowohl der Bestands- als auch der neuen Kunden).
Jedoch: die Zuverlässigkeit von bereits laufenden Projekten leidet darunter.
Was kann man dagegen tun?
Flexibilität und Zuverlässigkeit
Flexibilität ist erstrebenswert. Warum? Eine unmittelbare Reaktion auf dringende Kundenwünsche (und die Wünsche potenzieller Kunden) ist einerseits eine gute Möglichkeit, um Kunden zu binden und neue Kunden zu gewinnen. Andererseits kann es auch eine notwendige Taktik sein, wenn sich die Mitbewerber ebenso verhalten. Flexibilität ist also notwendig, um Marktanteile zu behalten und/oder zu erweitern.
Zuverlässigkeit bezüglich zugesagter Liefertermine ist ebenso erstrebenswert. Kunden belohnen Lieferanten, die zuverlässig sind (pünktlich, Einhaltung des Budgets und Lieferung der zugesagten Spezifikationen). Zuverlässigkeit bindet die bestehenden Kunden und führt schnell zu Loyalität bei neuen Kunden.
Flexibilität UND Zuverlässigkeit sind beide sehr wichtig für jedes Unternehmen, das Geld mit Projekten verdient. Allgemein wird angenommen, dass beides gleichzeitig nicht möglich ist. Daher gehen Unternehmen Kompromisse ein und tun ihr Bestes, um beidem einigermaßen gerecht zu werden.
Dieser Kompromiss ist oft unbefriedigend, weil entweder die Flexibilität oder die Zuverlässigkeit leiden. Oder sogar beides. Dies kann das Geschäft gefährden: Kunden sind nicht (mehr) ganz zufrieden. Und wenn Kunden in dieser Situation dennoch zufrieden sind, kommt es daher, dass sich die Mitbewerber genau so verhalten – die Situation also „state of the art“ ist.
Ist das die Realität hat das Unternehmen eine große Chance: nahezu perfekte Flexibilität UND nahezu perfekte Zuverlässigkeit zusammen wären ein gewaltiger Wettbewerbsvorteil!
Jedoch: in den meisten Unternehmen hat das Management einen Konflikt: setzt man auf Flexibilität oder Zuverlässigkeit? Oder sucht man den bestmöglichen Kompromiss?
Der Konflikt Flexibilität <--> Zuverlässigkeit
Die folgende Grafik ist eine "Dilemma-Wolke", die Methode entstammt den "Denkprozessen" der ToC = Theory of Constraints.
Die grundsätzliche Lese-Logik einer Dilemma-Wolke ist:
- "Um A zu erreichen muss ich B sicherstellen, weil ..."
- "Um B zu erreichen muss ich D sicherstellen, weil ..."
- "Um A zu erreichen muss ich C sicherstellen, weil ..."
- "Um C zu erreichen muss ich D‘ sicherstellen, weil ..."
Bild 1: Dilemma-Wolke "flexibel und/oder zuverlässig"
Die Konfliktbeschreibung aus der Dilemma-Wolke lautet also:
Obere Zeile ( A – B – D):
Um „A – ein Erfolgreiches Projektunternehmen“ zu haben, müssen wir „B - Kunden behalten und neue Kunden gewinnen“, weil
- „wir profitabel wachsen müssen, um erfolgreich zu sein“ und/oder
- „neue Kunden wesentlich sind für unser Wachstum (sind unser Lebenselixier)“.
Um „B - Kunden zu behalten und neue Kunden zu gewinnen, müssen wir „D - sofort auf Kundenwünsche eingehen“, weil
- „es oft dringende Kundenwünsche gibt“ und/oder
- „Kunden denjenigen Lieferanten Aufträge geben, die schnell bzw. sofort reagieren“ und/oder
- „Wenn es bei bestehenden Aufträgen zu Verzögerungen kommt, die durch Reaktionen auf dringende Anfragen bedingt sind, so sind die bestehenden Aufträge dennoch nicht gefährdet. Das bestehende Geschäft wird also nicht beeinträchtigt.“ und/oder
- „Kunden haben sich daran gewöhnt, dass es Verzögerungen gibt.“ und/oder
- „Es ist übliche Praxis, dass Projekte verspätet (oder unvollständig) ausgeliefert werden."
Untere Zeile (A – C – D‘):
Um „A -. Ein erfolgreiches Projektunternehmen“ zu haben, dürfen wir „C -die bestehenden Kundenbeziehungen nicht gefährden“, weil
- „Kunden haben ein Langzeitgedächtnis“ und/oder
- „Kunden ‘bestrafen’ nicht fristgerechte Leistung mit weniger Neu-Aufträgen bzw. beauftragen neue Lieferanten“.
Um „C - die bestehenden Kundenbeziehungen nicht gefährden“ , dürfen wir „D‘ - Nicht sofort auf Kundenanfragen reagieren“, weil
- „Sofortige Reaktion verzögert aktive Projekte.“ und/oder
- „Sofortige Reaktion führt zu Multitasking.“ und/oder
- „Multitasking führt zu verlorenen Kapazitäten.“ und/oder
- „Verlorene Kapazitäten führen zu noch mehr Verspätung.“
Was bedeutet dies nun für das konkrete Problem?
Wenn es stimmt, dass Verzögerungen bei der Projektfertigstellung (oder die Minderung des Leistungsumfangs) für den Kunden relevante Nachteile haben, und wenn außerdem richtig ist, dass verzögertes Reagieren auf Kundenwünsche ebenfalls zu bedeutenden Nachteilen für Kunden führt, dann ist der im Diagramm dargestellte Konflikt real. Also hat der Lieferant ein großes Problem.Wenn es dem Lieferanten gelänge, Flexibilität UND Zuverlässigkeit gleichzeitig deutlich zu steigern, dann wäre dies ein signifikanter Wettbewerbsvorteil.
Was könnte man also tun, um das Dilemma zu lösen?
Wenn es einer Organisation gelänge, mit denselben Ressourcen deutlich mehr zu leisten, dann könnte diese zusätzliche Kapazität genutzt werden, um an den dringenden Kundenwünschen zu arbeiten, ohne dass hierbei die laufenden Projekte leiden würden. Jedoch: die Schwierigkeit wird sein, wie man diese Kapazitätserhöhung erreicht.
Dass die interne Kapazitätserhöhung gelingen kann, zeigen Praxisbeispiele. So gelang es Unternehmen, ihre Projekt-Kapazität um 50 bis 100% zu steigern, mit denselben Ressourcen. Diese Organisationen nutzten die zusätzlichen Kapazitäten, um schneller zu reagieren, und um gleichzeitig mehr zu produzieren.
Was haben diese Unternehmen gemacht, um diese Erfolge zu erzielen?
Der Konflikt Flexibilität <--> Effektivität
Eine Aufgabe sollte immer fertiggestellt werden, bevor eine neue Aufgabe begonnen wird. Dies ist eine der Regeln im Critical Chain Project Management.
Diese Regel könnte so interpretiert werden, dass die Flexibilität darunter leiden würde. Wenn dem so wäre, wäre Critical Chain weniger flexibel als konventionelles Projektmanagement. Dass das Gegenteil der Fall ist, werden wir weiter unten sehen.
Aber lassen Sie uns zuerst die Dilemma-Wolke „Flexibilität <--> Effektivität“ anschauen:
Bild 2: Dilemma-Wolke "Multitasking: ja oder nein?"
Dieses Konflikt-Diagramm wird genauso gelesen wie das Diagramm oben.
Welche positiven Auswirkungen es hat, wenn schädliches Multitasking vermieden wird, ist schon in vielen Organisationen deutlich geworden. So haben einige Projektorganisationen 50% bis sogar 100% versteckte Kapazität entdeckt, die zuvor nicht ersichtlich war. Wie man diese neue Kapazität nutzt, ist abhängig davon, welche Strategien ein Unternehmen hat. Eine Möglichkeit ist, zusätzliche Kapazitäten dafür zu nutzen, dass einerseits eine höhere Flexibilität erreicht wird, und andererseits die Zuverlässigkeit erhöht wird oder mehr Projekte pro Zeit geliefert werden.
Wenn der Zustand größerer Kapazität erreicht ist, kann das Unternehmen fast immer die Regel „kein Multitasking“ einhalten, denn meistens ist die Zeit, in der ein Task fertiggestellt wird, kurz genug. Im anderen Fall, der Task-Unterbrechung, wird etwas Projekt-„Buffer “ verbraucht. In der Regel besteht keine „echte Gefahr“, dass das Projekt verspätet fertig wird. Zudem ist das Buffer-Management (siehe Anm. 1) ein Frühwarnsystem, das täglich anzeigt, ob der Liefertermin eines Projekts in Gefahr ist.
Wenn eine unmittelbare Reaktion auf Kundenwünsche nötig ist, kann dies selbstverständlich gemacht werden. Und durch die zusätzlichen Kapazitäten, die durch Critical Chain geschaffen werden, sind die negativen Auswirkungen auf laufende Projekte viel geringer.
Es bleibt zu prüfen, ob eine sofortige Reaktion (und dies bedeutet: „genau jetzt, in dieser Sekunde“) tatsächlich nötig ist. In den meisten Situationen ist eine sekundengenaue Reaktion nicht nötig.
Critical Chain empfiehlt die Vermeidung von „schädlichem Multitasking“, während „positives Multitasking“ durchaus erlaubt ist.
Anmerkung (1):
- „Buffer“ ist ein speziell definierter Begriff im CCPM. Der Buffer ist ein Zeitraum, in dem die Summe der zeitlichen Risiken aller Tasks (= Arbeitspakete) gebündelt werden. Der „Buffer“ befindet sich am Ende eines Projektes. Zur zeitlichen Absicherung der Zulieferketten gibt es auch sog „“Feeding-Buffer“. Achtung: ein „Buffer“ ist kein „Puffer“, denn der deutsche Begriff des „Puffers“ ist mittels der Netzplantechnik definiert.
- Das Buffer-Management findet täglich statt. Es macht fast keinen Arbeitsaufwand, und die Vorteile bezüglich Transparenz werden von den Beteiligten aller Hierarchiestufen als hervorragend bezeichnet.
Quelle:
- Autor: Rudi Burkhard, 2010, VISTEM (englische Originalversion)
- deutsche Übersetzung: Michael Homberg, Claudia Simon, Rudi Burkhard (VISTEM) (hier als pdf-Version)